Die sieben Leben der Luisenstadt
Im Jahre 2002 beging die Luisenstadt ihr 200-jähriges Bestehen. Grund genug, der Geschichte dieses eigenständigen Stadtteils nachzuspüren und seine Eigenart zu beschreiben. Vom Stadtplan und aus dem Verzeichnis der Bezirke ist die Luisenstadt verschwunden, in den Zeugnissen ihrer Geschichte und im Bewußtsein ihrer Bewohner lebt sie fort und sucht eine neue, der heutigen Zeit gemäße Gestalt zu gewinnen.
Luisenstadt I
I. Vorgeschichte und Gründung der Luisenstadt
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erstreckte sich jenseits des Festungsgrabens südöstlich von Cölln und Neukölln am Wasser die Köpenicker Vorstadt. Erste kleinere Wohnbereiche, Chausseehäuser, Meiereien, Kattunbleichen, Wind- und Lohmühlen, Invalidenhäuser, Friedhöfe, Gärtnereien und Holzmärkte entstanden außerhalb der Akzisemauer zunächst entlang den Ausfallstraßen. Unter dem Großen Kurfürsten und Friedrich I. waren französische Protestanten, Waldenser, Wallonen und Schweizer willkommene, hochqualifizierte religiöse Flüchtlinge; sie ließen sich als Goldschmiede, Seidenwirker, Hut- und Handschuhmacher in Berlin nieder. Vor allem aber Gärtner kamen in die Köpenicker Vorstadt. Es entstand eine französische Gemeinde, die sich 1700 eine eigene Kirche in der Scheunengasse baute.
Luisenstadt II
„Männerstolz vor Fürstenthronen“ - Die bürgerliche Luisenstadt
Mit der Einführung der Steinschen Städteordnung 1809 in Berlin, wählte und bildete die Bürgerschaft ihre eigene Obrigkeit und Verwaltung, wobei die alte korporative Gliederung der Bürgerschaft durch eine lokale abgelöst wurde: mit den Wahlbezirken entstand eine kommunale Struktur, die der parochialen kirchlichen entsprach, und die in den Polizei-, Armen-, Schul- und Schiedsrevieren differenziert ausgebaut wurde. Die Wahrnehmung der Aufgaben war Ehrenpflicht, die an das Bürgerrecht gebunden war. Die Honoratiorenschaft der Luisenstadt war eine durch Verwandtschaft, Freundschaft und Geschäftsbeziehungen eng verbundene Gemeinschaft; die die Basis einer selbstbewußten lokalen Identität bildete.
Luisenstadt III
Reichsgründung – die Luisenstadt in der Kaiserzeit
Nach der Reichsgründung wurde die Luisenstadt zum dichtest besiedelten Stadtteil Berlins mit dem höchsten Anteil an Produktionsstätten. Der Bauboom der Gründerzeit schuf unvorstellbare Wohnverhältnisse, wie sie Zille skizzierte und die Arbeitersanitätskommission anprangerte – bis zu hundert Einwohner lebten 1875 auf einem Grundstück der nach Hobrechts Plänen bis zum Landwehrkanal erweiterten Luisenstadt.
Aber auch die Infrastruktur profitierte von dem neuen Reichtum: bis 1900 entstanden 25 Gemeindeschulen; die Anlage der neuen Verkehrswege begann mit dem Görlitzer Bahnhof 1864 an der eben eingerissenen Stadtmauer und 1905 wurde die Hochbahn zum Schlesischen Tor eröffnet. Das weltberühmte ‚Exportviertel Ritterstraße‘ entstand mit vierhundert Fabrikationsstätten in 24 Straßen, die letzen Flächenreserven in den Blöcken wurden zugebaut, es gab erste Abrisse alter Bausubstanz zugunsten größerer Gewerbebauten wie die Kaufhäuser am Moritz- und Oranienplatz.
Luisenstadt IV
Vom Stadtplan verschwunden. Die Luisenstadt in den 20er Jahren
Diese Entwicklungen können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Luisenstadt als eigenständiges Gemeinwesen erodierte. Und so war es nur folgerichtig, daß im Rahmen der Großstadtwerdung Berlins 1920 die Luisenstadt von der kommunalen Landkarte verschwand. Der kleinere Teil nördlich des Luisenstädtischen Kanals, wurde dem neuen Bezirk ‚Mitte‘ zugeschlagen, der südliche Teil dem Bezirk ‚Hallesches Tor‘, ab 1921 ‚Kreuzberg‘. Die Lebensverhältnisse der Bevölkerung wurden von dieser Verwaltungsentscheidung nicht tangiert, die Folgen zeigten sich erst 1945, als die Sektorengrenze entlang der Bezirksgrenzen gezogen wurde und ab 1961 die Mauer quer durch die Luisenstadt lief.
1927 aber erschien noch „Die Luisenstadt. Ein Heimatbuch“, ein Zeichen der weiterbestehenden Identität dieses Gemeinwesens.
Deutliche Einbrüche waren zu verzeichnen: Der Bau der U-Bahnlinie von Kottbusser Tor zum Alexanderplatz bot Anlaß, den verkehrstechnisch überflüssigen und hygienisch bedenklich gewordenen Luisenstädtischen Kanal aufzulassen. Ab 1928 wurde er nach Plänen des Gartenbaudirektors Erwin Barth zu einer Grünanlage mit Spielplätzen und Lehrgärten umgeschaffen, wobei durch die Tieflage der Teilgärten und die Beibehaltung des Engelbeckens die Vergangenheit und die Gegenwart auf geniale Weise aufgehoben wurde – der Kanal blieb Schicksalslinie und Gedächtnis der Luisenstadt bis heute.
Das Engelbecken wurde zum Schmuckteich mit Karpfenfang und Schlittschuhlaufen im Winter; der Plan, ein Volksbad einzurichten, ließ sich wegen des Widerstandes der katholischen Öffentlichkeit ebenso wenig realisieren wie die Idee eines tropischen Teiches, gespeist mit den warmen Abwässern der Kühlfabrik in der Köpenicker Straße – ein nostalgischer Hinweis blieb der Indische Brunnen im Rosengarten.
Luisenstadt V
Anpassung und Widerstand – die Luisenstadt im III. Reich
Die bürgerlichen Tugenden, wie sie im 19. Jahrhundert in der Luisenstadt entfaltet wurden, waren weder in der Weimarer Republik noch im Dritten Reich gefragt – andere Identitäten als die eigenständig-lokale prägten das gesellschaftliche und politische Leben. Durch die Kriegsfolgen und die Inflation war das Gewerbe in der Luisenstadt stark zurückgegangen, Arbeitslosigkeit und politische Radikalisierung prägten die soziale Situation; zwischen 1924 und 1928 war der größte Teil ihrer Bevölkerung auf Wohlfahrtsunterstützung angewiesen. Die beiden politischen Lager bauten ihre sozialen Netze auf und aus; um den Görlitzer Bahnhof etablierten sich in den Kneipen der Arbeitersportbund ‚Fichte‘ (SPD), der Rotfrontkämpferbund (KPD). Im ‚In der Wiener Str. 10 befand sich ab 1929 das berüchtigte SA-Sturmlokal ‚Wiener Garten‘, 1933 auch wildes KZ und Folterkeller. Um die Arbeitslosen werben beide Lager; beim Mieterstreik 1932 wehen Fahnen mit Hakenkreuz und mit Hammer und Sichel nebeneinander an den Häusern in der Luisenstadt.
Unmittelbar nach der Machtübernahme 1933 begann auch die ‚Gleichschaltung‘ der Luisenstadt. SA besetzte die Gewerkschaftshäuser am Engeldamm und am Oranienplatz, in den evangelischen Kirchengemeinden rückten die ‚Deutschen Christen‘ in die Gemeindekirchenräte ein, jüdische Beamte, Ärzte, Juristen und Hebammen auch Pfarrer bekamen Berufsverbot, die jüdischen Geschäfte in der Luisenstadt wurden ‚arisiert‘. Neben den Hinterhofsynagogen der privaten Synagogenvereine war die Gemeindesynagoge am Fraenkelufer Mittelpunkt jüdischen Lebens; sie wurde von der SA in der Pogromnacht 1938 teilweise zerstört. Und doch gab es auch Widerstandsgruppen: vor allem die Gruppe um Herbert Baum, die sich aus Mitgliedern jüdischer Sport- und Jugendgruppen rekrutierte und im Mai 1942 den Brandanschlag auf die Propaganda-Ausstellung ‚Das Sowjetparadies‘ verübte. Mit dem Verbot der KPD und der SPD, der Verhaftung und Einkerkerung ihrer Funktionäre blieb den linken Parteien nur der weit verzweigte Untergrund in den Betrieben der Luisenstadt.
Die Fabriken in der Köpenicker Straße und dem Exportviertel Ritterstraße wurden für die Rüstung umorganisiert; ein wesentlicher Grund dafür, daß die Luisenstadt zum Ziel verheerender Luftangriffe wurde – der letzte und schwerste, dem fast die ganze innere Luisenstadt zum Opfer fiel, am 3. Februar 1945; SO 36 kam vergleichsweise glimpflich davon. Damals wurde auch die Luisenstadt-Kirche zerstört; in ihren Gewölben kamen über 60 Menschen ums Leben, darunter viele Kinder. 3.255 Tote und Vermißte kostete der Angriff, 11.097 Menschen wurden ausgebombt. Durch die Luisenstadt rückte die Rote Armee auf das Stadtzentrum vor, eine der Photographien zeigt ihre Panzer vor der St. Thomas-Kirche.
Luisenstadt VI
Am Rande zweier Gesellschaften – Die Luisenstadt in Ost und West
Der äußere Teil der alten Luisenstadt war im Krieg glimpflich davongekommen, während der zentrale Bereich weitgehend flachgebombt worden war. Aber Sektorengrenze und ab 1961 die Mauer verfügten die beiden Teile der Luisenstadt für vierzig Jahre in gegensätzliche gesellschaftliche Identitäten.
Ab den 50er Jahren waren in Ost und Welt die Brachflächen nach modernen städtebaulichen Prinzipien (Charta von Athen) als innerstädtische Gartenstadt neu gebaut worden.
In SO 36, dem westberliner Teil der Luisenstadt, formierte sich in den 70er Jahren die Gegenwehr gegen die Kahlschlagsanierung des städtebaulichen, sozialen und gewerblichen Bestandes des Stadtteils. Initiativen der evangelischen Kirchengemeinden führten schließlich 1977 zu den '‚Strategien für Kreuzberg'‘.
In diesem Projekt, das in Zusammenarbeit mit Senat und Bezirk durchgeführt wurde, konnten alle Bewohner und Freunde Vorschläge für die bauliche, soziale, politische und kulturelle Erneuerung als Alternative zur geplanten Kahlschlagsanierung machen. Dieser Ansatz zivilgesellschaftlichen Engagements entsprach den alten Luisenstädtischen Bürgertugenden und erbrachte eine breite Allianz aktiver Beteiligung.
Der Senat finanzierte die durch eine offene Ausschreibung gewonnenen Teilprojekte und sattelte den Altbauteil der Internationalen Bauausstellung `84-`87 drauf. Die Hausbesetzungen brachten den nötigen Wohnungs- und gesellschaftspolitischen Drive, der Bezirk setzte sich für eine friedliche Lösung und Legalisierung der besetzten Häuser ein, die Landeskirche ermöglichte die Gründung einer alternativen Sanierungsgesellschaft – der ‚Sonderweg Kreuzberg‘ schuf die Voraussetzungen für den lebendigsten und tolerantesten Bezirk West-Berlins.
Luisenstadt VII
Vom Mauerfall bis heute – DU ABER BLEIBST?
Die Wende beseitigte mit dem Fall der Mauer die äußere Trennung der beiden Teile der Luisenstadt: die Mauerbrache auf der Trasse des Kanals wurde nicht zur Verkehrstrasse in das Stadtzentrum, sondern wurde der Gartendenkmalpflege zur Wiederherstellung übergeben. Aus engagierten Bürgern von SO 36 und der ‚Bürgerinitiative Luisenstadt‘ im Ostteil bildete sich der ‚Bürgerverein Luisenstadt‘, der nun seit über 10 Jahren versucht, die innere Teilung zwischen den beiden so verschieden geprägten Einwohnergruppen zu überwinden und den in die Wohnanlagen auf der ehemaligen Mauerbrache Zugezogenen Heimatgefühl zu vermitteln. Er erforscht das bauliche und soziale Erbe der Luisenstadt für die heutige Identität der Luisenstadt. Diese Aufgabe ist umso dringlicher, als in der Berliner Bezirksreform von 1999 die verwaltungsmäßige Trennung festgeschrieben wurde.
Die spannende Frage ist, ob es gelingt, quer zu den verordneten Bezirks-Identitäten eine eigene, bürgerschaftlich getragene Identität der Luisenstadt zu entwickeln und die Interessen ihrer Bewohner zu vertreten. Dazu finden sich die gemeinwesentragende Kräfte zusammen: die Stadtteilbibliotheken, Bezirksmuseen, die Kirchengemeinden, auch Gewerbetreibende und die Wohnungsbaugenossenschaft der Luisenstädtischen Gartenstadt. So versucht dieser offiziell nicht vorhandene Stadtteil zu sich selbst zu finden und sich der Berliner Öffentlichkeit bekannt zu machen. Der Weg ist jedoch noch lang, Senat und Bezirke haben bis heute Probleme, die Luisenstadt und ihre Bewohner ernst zu nehmen – der Bürgerverein versteht sich als Stimme der Luisenstadt.