„Männerstolz vor Fürstenthronen“ - Die bürgerliche Luisenstadt
Mit der Einführung der Steinschen Städteordnung 1809 in Berlin, wählte und bildete die Bürgerschaft ihre eigene Obrigkeit und Verwaltung, wobei die alte korporative Gliederung der Bürgerschaft durch eine lokale abgelöst wurde: mit den Wahlbezirken entstand eine kommunale Struktur, die der parochialen kirchlichen entsprach, und die in den Polizei-, Armen-, Schul- und Schiedsrevieren differenziert ausgebaut wurde. Die Wahrnehmung der Aufgaben war Ehrenpflicht, die an das Bürgerrecht gebunden war. Die Honoratiorenschaft der Luisenstadt war eine durch Verwandtschaft, Freundschaft und Geschäftsbeziehungen eng verbundene Gemeinschaft; die die Basis einer selbstbewußten lokalen Identität bildete.

Unter den Aufgaben, die der Staat an die Kommunen delegierte, stand die Armenpflege an erster Stelle. Sie wurde unter der Kontrolle der städtischen Armendirektion - an ihrer Spitze der Stadtrat de Cuvry (1785-1869), ein Luisenstädter - von ehrenamtlichen Bürgern in den zahlreichen lokalen Armenkommissionen ausgeübt, die in der Luisenstadt ein besonders dichtes Netz bildeten. 1825 gründeten die Vorsteher der Luisenstädtischen Armenkommissionen zusammen mit den Pfarrern und anderen angesehenen Bürgern, vor allem den Besitzern der Kattunfabriken und Ledergerbereien, den Luisenstädti-schen Wohlthätigkeitsverein, der bis 1856 sich vor allem für die Schulbildung der Fabrikkinder einsetzte und dafür als eigene Einrichtungen die Sonntags- und Abendschulen schuf.
Auch die später von der Kommune übernommenen Schulkommissionen, die sich um den regelmäßigen Schulbesuch kümmerten, sind durch den Verein entstanden. All diese Bemühungen waren von der Absicht geleitet, das sich bildende Proletariat durch Hilfe zur Selbsthilfe instand zu setzen, ihren und ihrer Familien Lebensunterhalt selbst zu erwirtschaften und sie damit in die bürgerliche Gesellschaft einzugliedern.

Aber gerade in diesem Stadtteil wurde der Bürgersinn seit dem Regierungsantritt von Friedrich Wilhelm IV. aufs stärkste herausgefordert. Die Vorstellungen des Königs von einem christlichen Ständestaat moderner Prägung widersprachen diametral der bürgerlichen Liberalität, die sich in wirtschaftlichem Aufstieg, politischer Eigenverantwortung und gesteigertem Bildungsanspruch immer selbstbewußter ausprägte.


Parallel dazu lief ein scheinbar innerkirchlicher Konflikt, der sehr schnell grundsätzliche und exemplarische Bedeutung erhielt. Pfarrer Bachmann war theologisch auf die konservative, dem frommen König nahestehende Seite gerückt und betrieb seit 1843 die Teilung der wachsenden Luisenstadt-Gemeinde.

Zusammenarbeit mit der kommunalen Armenpflege, vor allem aber Praktizierung des Schleiermacherschen Weltchristentums machten das ‚Modell Kochhann‘ zum Modell liberalen Bürgertums protestantischer Prägung. So entwickelten sich im Vormärz in Berlin die Konflikte um die evangelische Kirchlichkeit zu einem verdeckten Feld der Auseinandersetzung zwischen dem königlich-konservativen und dem bürgerlich liberalen Gesellschaftskonzept.
Nach der gescheiterten Revolution von 1848 und der reaktionären Periode gab es nach 1852 in Berlin eine Renaissance der bürgerlichen Liberalität. Die ins innere und äußere Exil Gegangenen – wie Runge, Kochhann u.a. – kehrten in die Lokalpolitik zurück und initiierten mit Hobrecht, Virchow, v. Gneist, Siemens und anderen im Streit mit Bismarck Berlins Aufschwung zur liberalen Metropole mit moderner Kommunalwirtschaft.
Die bauliche Entwicklung der Luisenstadt brachte die später als ‚Kreuzberger Mischung‘ bekannte Nutzung der großzügigen Blöcke der Lennéschen Planung hervor mit Wohnhäusern zur Straße und der Auffüllung der Bürgergärten im Blockinneren durch Manufakturen, kleine Fabriken, aber auch öffentliche Gebäude, wobei bis Ende des Jahrhunderts die gärtnerische Nutzung sich neben der industriellen behauptete.
